Prozessschutz und Schalenwild - auch in Wirtschaftswäldern

Der Wald, Einstand des Schalenwildes, verändert sich. Wo der Altersklassenwald früher seinen sichtbaren Ausdruck in Fichtenschonungen und Kahlschlägen fand, hat sich heute die Erkenntnis durchgesetzt, dass Dauer- Mischwälder die bessere Variante, auch im Wirtschaftwald, sind. Denn dass sich selbst verjüngende Mischwälder nicht nur ökologisch wertvoller, sondern der Kahlschlagswirtschaft auch ökonomisch überlegen sind, ist mittlerweile bekannt (z.B. Knoke 2010). Aus diesen Gründen hat der Landesbetrieb Wald und Holz NRW (wie alle anderen Landeswaldbetriebe) seinen Betrieb auf eine "standortgerechte und naturnahe Bewirtschaftung" der Wälder umgestellt. Auch die meisten Kommunal- und viele Körperschaftswälder werden heute "naturnah" bewirtschaftet. Im Privatwald (64% der Fläche in NRW!) setzt der Trend erst langsam ein. Hier sind es insbesondere die großen Waldeigentümer, die ihre Bewirtschaftungsweise umstellen. Doch lässt sich eine Umstellung überhaupt realisieren? Waldbauern und Förster weisen immer wieder auf die höchste Hürde auf dem Weg zum Dauerwald hin: es sind die hohen Schalenwildbestände.

 

Standortgerechte Waldgesellschaften

Die ökologisch stabilsten Wälder (und damit auch ökonomisch "sichersten") sind die, die der potentiell natürlichen Vegetation entsprechen. Darunter versteht man jene Vegetation, die sich ohne direkten Einfluss des Menschen an diesem Standort künftig einstellen würde (Vgl. Tüxen 1956; Burrichter 1973). Auf den unterschiedlichen Standorten wachsen - je nach Nährstoff-, Basen- und Wasserversorgung - standorttypische Waldgesellschaften mit mehr oder weniger breiten Artenspektren. Beispiel Buchenwälder:

  • auf bodensauren Standorten wachsen artenarme Hainsimsen- Buchenwälder. Neben der stark dominierenden Buche findet man nur vereinzelt Eichen, Birken oder Ebereschen. Typische Sträucher sind Faulbaum und Wald- Geißblatt. In der Krautschicht säureertragende Arten wie Weiße Hainsimse, Drahtschmiele und Heidelbeere. Diese Waldgesellschaft ist charakteristisch für weite Teile des Bergischen Landes, des Sauer- und Siegerlandes. Weite Teile dieser Standorte sind hier aber "verfichtet" worden.
  • auf basenreichen Standorten, den frischen, kalkhaltigen Böden des Hügel- und Berglandes, findet man die deutlich artenreicheren Haargersten- Buchenwälder. Neben Buchen sind hier Bergahorn, Esche, Bergulme (fast ausgestorben), Feldahorn, Hainbuche, Traubeneiche und Elsbeere vertreten. In der Strauchschicht wachsen u.a. Weißdorn und Hartriegel. Diese Wälder sind deutlich seltener als die Hainsimsen- Buchenwälder, da es deutlich weniger Fläche mit Kalkböden in nRW gibt. Die größte zusammenhängende Region ist Ostwestfalen, wo die Kalkböden auf den Paderborner und Briloner Hochflächen auch sehr guten Ackerbau zulassen.

 

Selektion durch Schalenwild - Der Wald- Wild- Konflikt in NRW

Die Waldgesellschaften werden seit vielen Jahren entscheidend vom Schalenwild beeinträchtigt, indem Rehe und Hirsche bevorzugte Pflanzenarten selektieren – bis hin zur völligen Auslöschung einiger Arten in der Naturverjüngung. Das Ausmaß der Entmischung zeigt eine Arbeit zur Naturwaldforschung in NRW (Striepen 2013).

Klaus Striepen zeigt hier, dass das Schalenwild in 75% der 48 untersuchten Wälder, verteilt über ganz NRW, die Waldgesellschaften signifikant beeinflussen. In den artenreichen Buchenwäldern (s.o.) wachsen innerhalb der wilddichten Zäune durchschnittlich 9 Gehölzarten, unter Schalenwildeinwirkung nur zwei Arten! "In den Buchenwäldern unterstützen überhöhte Schalenwilddichten die absolute Dominanz der Buche in der Naturverjüngung und fördern langfristig eine Verarmung des Folgebestandes hin zum Buchen- Reinbestand. (...) Auch aus naturschutzfachlicher Sicht ist die Entmischung als äußerst problematisch zu bewerten, da die natürliche Vermehrung seltener und gefährdeter Baumarten, wie z.B. Elsbeere, Eibe oder Feldahorn, verhindert wird (ebd.)".(Literatur: Striepen, Klaus (2013): Wechselbeziehungen zwischen Schalenwild und Vegetation. Naturwaldforschung in Nordrhein-Westfalen. In: AFZ/ Der Wald 3/2013, S. 16-19).

 

Eigene Kartierungen und Beobachtungen bestätigen die Ergebnisse Striepens. In den letzten 10 Jahren haben wir in über 100 Revieren in NRW gearbeitet - in fast allen Landschaftsräumen des Landes (Münsterland, Ostwestfalen, Ruhrgebiet, Niederrhein, Eifel, Bergisches Land, Sauerland, Siegerland). In mehr als 80% mussten wir signifikante Beeinträchtigungen der Naturverjüngungen feststellen.

 

Als eine „Zeigerart“ an vielen Standorten gilt die bei Rehen besonders beliebte Eiche. Naturverjüngte Eichen in einer Höhe, in der ihr Terminaltrieb nicht mehr verbissen werden kann, sind flächendeckend in NRW kaum zu finden. Und das trotz eines massenhaften Samenreservoirs aufgrund zahlreicher Eichen- Mastjahre in den letzten beiden Jahrzehnten! Ein aus ökologischer Sicht (und auch aus Sicht von Waldbauern und Gesellschaft) alarmierendes Zeichen! Anspruch der Jagd sollte sein, dass sich alle Arten der potentiellen natürlichen Vegetation in ausreichender Zahl tatsächlich verjüngen, so dass artenreiche, naturnahe Wälder für zukünftige Generationen gegründet werden.

 

Aus ökologischer Sicht gibt es daher ein flächendeckendes Verbissproblem in den Wäldern NRW's.

 

Jagdausübungsberechtigte (aber auch jeder andere), in deren Revieren sich die potentiell natürliche Vegetation verjüngt, sind herzlich aufgerufen, sich bei Wildökologie-Heute zu melden! 

Artenreicher, wüchsiger Kalkbuchenwald bei Menden im Sauerland und artenarmer Hainsimsenbuchenwald an der Wiehltalsperre

Auswirkungen von Klimaerwärmung und hohen Rehwilddichten - Beispiel Ilex

Die Klimaerwärmung der letzten Jahrzehnte hat bereits jetzt erkennbare Auswirkungen auf das Ökosystem Wald. Wärmeliebende Baumarten, wie die Robinie (Robinia pseudoacacia) oder die Esskastanie (Castanea sativa) fruktifizieren, verjüngen sich erfolgreich und weiten ihr Verbreitungsgebiet aus.

Eine ähnlich expansive Entwicklung nimmt die Stechpalme (Ilex aquifolium). Die atlantische Art, die feuchte, winterwarme Regionen schätzt, profitiert von den milden Wintern. In den milden Niederungsregionen breitet er sich aus und im Mittelgebirge "klettert" er die Berge herauf.

Der Großstrauch, dessen hartes Holz schon Germanen und Gallier zum Drechseln und Herstellen von Werkzugstielen und Rädern verwendeten, war trotz seiner extrem stacheligen Blätter so beliebt, dass er selten wurde und heute nach Bundesartenschutz-VO eine besonders geschützte Art ist. Diese bodensaure, rein atlantische Waldgesellschaft (Ilici- Fagetum) kommt in Deutschland nur fragmentarisch vor und ist entsprechend selten.

 

In seinem Hauptverbreitungsgebiet, dem Märkischen Hügelland (östliches ME, Ennepe-Ruhr- Kreis, nördlicher MK), bereitet der Ilex den Waldbauern und Waldarbeiter aber zunehmend Sorgen. Die Pflanze hat sich in den letzten 20 Jahren extrem stark ausgebreitet und ist in den Buchenwäldern der Silikatstandorte meist einzige, dominante Art der Strauchschicht. Eine andere, typische Art der Strauchschicht dieses ansonsten artenarmen Waldes ist die Eibe (Taxus baccata). Doch wie die Jungpflanzen von Buchen, Trauben- und Stieleiche wird auch die Eibe von Rehen heraus selektiert - oft bis zur völligen Auslöschung dieser Arten. Einzig verbleibende Art ist der wüchsige Ilex, der von den Rehen weniger gern gefressen wird und sich daher stark ausbreitet. Die Verhältnisse erinnern ein wenig an die mittelalterliche Waldweide, als das Vieh in die Wälder getrieben wurde. Auch damals kam es in den "Hutewäldern" der Region zur Ausbreitung der Stechpalme.

Ilex- Buchenwald bei Hattingen- Bredenscheid

 

Prozessschutz als Wildnis: Natur Natur sein lassen

 

Der Grundsatz „Natur Natur sein lassen“ ist spätestens seit der „Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt“ von 2007 zu einer Leitidee des Naturschutzes geworden. Die Biodiversitätsstrategie, wie sie auch genannt wird, wurde verabschiedet, weil ungehindert ablaufende, ungestörte Abläufe heute in der Landschaft sehr selten geworden sind und man weiß, dass Wildnisgebiete häufig besonders viele und oft seltene Tier- und Pflanzenarten beheimaten. Daher verfolgt die Strategie das Ziel, in Zukunft 2 % der Landschaft und 5 % der Wälder Deutschlands sich selbst zu überlassen. Es sollen Gebiete entstehen, in denen keine Nutzung durch den Menschen stattfindet und Störungen weitestgehend ausgeschlossen werden. In diesem Zusammenhang ist in den vergangenen Jahren der Begriff „Prozessschutz“ viel diskutiert und weiter entwickelt worden.

 

In dem aktuellen Artikel "Natur Natur sein lassen - Prozessschutz mit oder ohne Schalenwildregulierung" (OekoJagd 2/14; S. 14-21) wird der Blick auf den Prozessschutz in Waldökosystemen gelenkt. Der Sinn bzw. Unsinn der Schalenwildregulierung in diesen Gebieten wird mitunter kontrovers diskutiert.


E-Mail